22. 07. 2013 - Tickende Zeitbombe Policenmodell?
(ac) Der BGH hat dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob das sogenannte Policenmodell mit dem Europarecht im Einklang steht. Nach dem Policenmodell, das bis Ende 2007 nach dem alten VVG galt, erlischt das Recht des Kunden auf Widerspruch nach einem Jahr seit Zahlung der ersten Prämie. Die Generalanwältin des EuGH hat nunmehr in ihrer Stellungnahme die Auffassung vertreten, dass die Regelung im VVG a.F. mit den EU-Richtlinien nicht vereinbar ist. Wie geht es nun weiter? Die Entscheidung könnte für einen Paukenschlag sorgen. Betroffen sind dem beklagten Versicherer zufolge mehr als 108 Millionen Verträge, die in der Zeit von 1995 bis 2007 nur bei ihm abgeschlossen wurden. Das Prämienvolumen dieser betroffenen Verträge beziffert der Versicherer allein für sein Haus auf ungefähr 400 Mrd. Euro, die von dem Urteil berührt sein könnten. Setzt sich der Kläger mit seinem Ansinnen durch, hätte dies für die Assekuranz weitreichende Folgen. „Unendliches“ Recht auf Widerspruch?Kunden hätten quasi ein unbefristetes Recht auf Widerspruch von ihrem Vertrag; sie könnten die bislang eingezahlten Beiträge aus ihrer Police von Versicherern zurückfordern – zuzüglich der Zinsgewinne. Um dieses „unendliche“ Widerspruchsrecht zu stoppen, müsste der Versicherer erst einmal in jedem einzelnen Fall nachweisen, dass der Kunde seine Police erwiesenermaßen erhalten hat und auf sein Recht auf Widerspruch aufgeklärt wurde. Doch der Reihe nach: Mit Vertragsbeginn zum 01.12.1998 schloss der klagende Kunde einen Rentenversicherungsvertrag ab. Die Bedingungen und die Verbraucherinformationen erhielt der Kunde erst mit dem Versicherungsschein. Dabei wurde er nicht in drucktechnisch hervorgehobener Form über sein Widerspruchsrecht belehrt. Als er dann den Vertrag am 01.06.2007 kündigte, zahlte ihm sein Versicherer den Rückkaufswert aus, der etwa 1580 Euro über seinen Einzahlungen lag. Der Kunde verlangte jedoch die Rückzahlung all seiner Beiträge zuzüglich der vom Versicherer erwirtschafteten Gewinne (ca. weitere 22.270 Euro). Begründung: Bei Vertragsabschluss sei er nicht ausreichend über sein Widerspruchsrecht aufgeklärt worden. Die 14-tägige Widerspruchsfrist habe daher in all den Jahren überhaupt noch nicht begonnen. „Jahresfrist mit Europarecht unvereinbar“Inzwischen ist der Rechtsstreit beim Bundesgerichtshof anhängig. Der Bundesgerichtshof (BGH) wiederum hat sich an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit der Frage gewandt, ob das Widerspruchsrecht des Versicherungsnehmers spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, selbst wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt oder Widerspruch belehrt worden ist. Konkret geht es um die Gültigkeit des § 5a Versicherungsvertragsgesetz (VVG) in der alten Fassung. Dort war u.a. im zweiten Absatz festgelegt, dass das Recht zum Widerspruch ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie erlischt (sog. Policenmodell). In ihrem Beschluss vom März 2012 erklären die Karlsruher Richter, dass der Kläger nur Erfolg hat, wenn er ungeachtet der Bestimmung des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. noch zu einem Widerspruch berechtigt war, nachdem mehr als ein Jahr seit Zahlung der ersten Prämie verstrichen war. Insofern komme es darauf an, ob diese im VVG a.F. verankerte Jahresfrist mit dem Europarecht im Einklang steht. Dazu hat sich nun erstmals die zuständige Generalanwältin Eleanor Sharpston geäußert. In ihrer Stellungnahme „gelange ich zu dem Ergebnis“, so die Generalanwältin, dass die entsprechenden europäischen Richtlinien „Regelungen eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der das Rücktrittsrecht nach mehr als einem Jahr seit Zahlung der ersten Prämie unabhängig davon nicht mehr ausgeübt werden kann, ob der Versicherer den Versicherungsnehmer ordnungsgemäß und rechtzeitig über dieses Recht belehrt hat.“ Kurzum: Die Generalanwältin hält die Bestimmung im § 5a VVG a.F. mit dem Europarecht für nicht vereinbar. Urteil betrifft viele KundenFür den Fall, dass der Gerichtshof eine nationale Regelung wie die Jahresfrist nach den maßgeblichen EU-Richtlinien für unzulässig erklären sollte, hat der Versicherer beantragt, die zeitliche Wirkung des Urteils zu beschränken. „Meines Erachtens“, sagt Sharpston, „liegen im vorliegenden Fall nicht genügend Gründe vor, um eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen des Urteils zu rechtfertigen“. Das Urteil des Gerichtshofs, erklärt die Generalanwältin, dürfte auch andere Versicherungsnehmer berühren. Zwar ist § 5a VVG a.F. außer Kraft getreten, die Vorschrift gilt jedoch immer noch für eine beträchtliche Anzahl von Lebensversicherungsverträgen. „Es könnte auch für Versicherungsnehmer von Belang sein, die Lebensversicherungsverträge geschlossen haben, für die andere Bestimmungen als § 5a VVG a.F. maßgeblich sind, bei denen jedoch für das Rücktrittsrecht dieselbe (oder eine ähnliche) Ein-Jahr-Regel gilt“, schreibt Sharpston. Mit einer abschließende Entscheidung des EuGH wird erst in einigen Monat gerechnet. Zwar ist das Ergebnis der Generalanwältin für den EuGH nicht bindend. In etwa 80 Prozent der Fälle kämen die Richter jedoch zum selben Ergebnis wie die Generalanwältin, heißt es in einem Schreiben des Verbraucherzentrale Bundesverband. Vertritt also der EuGH ebenfalls die Auffassung von Frau Sharpston, dass die VVG-Bestimmung nicht mit dem Europarecht vereinbar ist, wäre die Sache wieder beim BGH angekommen. Dieser müsste dann erst einmal klären, welche rechtlichen Konsequenzen sich aus der EuGH-Entscheidung für den konkreten Rechtsstreit ergeben. Es bleibt also spannend.IV ZR 76/11 – Beschluss vom 28. März 2012Landgericht Stuttgart – Urteil vom 13. Juli 2010 – 22 O 587/09, Oberlandesgericht Stuttgart – Urteil vom 31. März 2011 – 7 U 147/10Text: Umar Choudhry
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